
Rezension: Hildesheim. Was nicht auf der Welterbeliste steht
3. Oktober 20251931 veranstaltete das »Prager Tagblatt« eine Umfrage zum Thema »Meine erste Liebe«. Auch Thomas Mann wurde angeschrieben, antwortete aber zu spät, da er wegen eines Paris-Aufenthalts nicht rechtzeitig auf die Frage eingehen konnte: »Ich hätte mich übrigens nur auf meine Jugenderzählung ›Tonio Kröger‹ beziehen können, die von solch süßen Schmerzen allerlei zu erzählen weiß.«
Die »süßen Schmerzen« beziehen sich darin auf Tonios Schulkameraden Hans Hansen. Tonio »liebte ihn zunächst, weil er schön war; dann aber, weil er in allen Stücken als sein eigenes Widerspiel und Gegenteil erschien.« Die beiden Jungen entstammen nicht Manns Phantasie; in ihnen hat er einer frühen Freundschaft aus seiner Lübecker Zeit ein Denkmal gesetzt. Hans Hansens Vorbild war Armin Martens, ein hübscher Junge mit blauen Augen, blonden Haaren und einem bezaubernden Lächeln, der auf den damals 14-Jährigen einen ungemeinen Reiz ausübte. Kurz vor seinem Tod bekannte Mann in einem Brief: »Den habe ich geliebt – er war tatsächlich meine erste Liebe, und eine zartere, seligschmerzlichere war mir nie wieder beschieden.« Leider hat ihn Armin, als ihm Thomas seine »Schwärmerei« gestand, ausgelacht: »Das lag an mir und an ihm. Sie starb denn auch so dahin – lange bevor er selbst, dessen Charme schon durch die Pubertät erheblichen Schaden gelitten, als Allererster irgendwo starb …«
Manns besonderer Blick für schöne Knaben aber blieb und hat in seinen Büchern einen Niederschlag gefunden. Vor allem in der Novelle »Der Tod in Venedig« (1911), in der sich ein alternder Schriftsteller (!) in den hübschen polnischen Knaben Tadzio verliebt.
Thomas Mann ist kein Einzelfall; in der Literatur hat Tadzio viele Brüder: In zahlreichen Romanen, Erzählungen, Gedichten begegnet der »schöne Knabe«, dessen Wahrnehmung nicht nur zum Stehenbleiben, An- und Nachschauen reizt, sondern bis zur Betroffenheit, ja zum Erschrecken führen kann und darüber sinnieren lässt, was Schönheit ist und aus welchen Quellen sie gespeist wird.
Weitere Beispiele finden sich als Ergebnis einer literarischen Spurensuche in unserem Buch »Tadzios Brüder. Der ›Schöne Knabe‹ in der Literatur«. Zu Wort kommen zahlreiche Autor:innen von Goethe über Selma Lagerlöf bis zu Sten Nadolny.


