
Rezension: Hildesheim. Was nicht auf der Welterbeliste steht
3. Oktober 2025In seiner Novelle “Der Tod in Venedig”(1913) schildert Thomas Mann auch die Szene, in der Gustav Aschenbach, ein Münchener Schriftsteller, in seinem Hotel am Lido eine polnische Familie beobachtet – eine kleine Gruppe Jugendlicher, die unter der Obhut einer Erzieherin oder Gesellschafterin um ein Tischchen versammelt saß: drei junge Mädchen, fünfzehn- bis siebzehnjährig, “und ein langhaariger Knabe von vielleicht vierzehn Jahren. Mit Erstaunen bemerkte Aschenbach, daß der Knabe vollkommen schön war”. (Thomas Mann, Der Tod in Venedig – 1913)
“Tadzio” heißt der schöne Knabe, wie der ihn betrachtende Gustav Aschenbach später erfährt. Wer sein reales Vorbild war, wird wohl nicht endgültig zu klären sein. Dass es dieses Vorbild gab, ist hingegen unbestritten; Katia Mann berichtet in ihren „Ungeschriebenen Memoiren“ (1983) unter anderem auch vom Venedig-Aufenthalt des Ehepaares im Jahr 1911 und bestätigt, dass sie gleich am ersten Tag im Hotel-des-Bains “diese polnische Familie” sahen, die genau so aussah, wie ihr Mann sie in der Novelle geschildert hat – auch mit “dem sehr reizenden, bildhübschen, etwa dreizehnjährigen Knaben, der mit einem Matrosenanzug, einem offenen Kragen und einer netten Masche gekleidet war und meinem Mann sehr in die Augen stach”. 1965 gab sich der polnische Baron Władysław Moes als dieser Knabe zu erkennen, was aber bezweifelt wird, nicht zuletzt deshalb, weil er zum damaligen Zeitpunkt noch nicht einmal elf Jahre alt gewesen wäre. Vom SPIEGEL wurde gemutmaßt, dass altersmäßig besser ein Sprössling aus dem polnischen Grafengeschlecht Dzieduszycki passen würde, Adam, „Adamciu“ gerufen, der ebenfalls mit seiner Familie oft am Lido weilte und 1911 etwa 15 Jahre alt war.
Björn Andrésen, der „Tadzio“-Darsteller in Luchino Viscontis Verfilmumg der Novelle von 1971 wurde anlässlich der Filmpremiere vom Regisseur als „der schönste Junge der Welt“ präsentiert. Über Nacht sah sich der Sechzehnjährige mit einem zweifelhaften Ruhm konfrontiert, der ihm auch viele leidvolle Erfahrungen einbrachte. Sein Bild schmückte auch Germaine Greers viel beachtetes Buch “The boy”/”Der Knabe” (Gerstenberg 2003) .
„Der Schönste“: Eine solche Auszeichnung ist immer problematisch. Bekanntlich entsteht Schönheit auch im Auge des Betrachters, ist also sehr subjektiv. Und „der Schönste der Welt“ ist in jedem Fall eine gewagte Aussage. Allerdings hat auch Thomas Mann selbst in einem anderen Buch eine ähnlich absolute Aussage über den Jungen getroffen – in seiner Romantetralogie „Joseph und seine Brüder“ (Der junge Joseph): „Joseph war siebzehn Jahre alt und in den Augen aller, die ihn sahen, der Schönste unter den Menschenkindern.“ Er beschreibt ihn dann in seiner Jugendanmut noch zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit schwankend, „schön wie Weib und Mann, schön von beiden Seiten her und auf alle Weise, hübsch und schön, dass es zum Gaffen und Sichvergafffen ist für Weib und Mann.“ Auch in Björn Andrésen vergafften sich Männer wie Frauen gleichermaßen.
Björn Andrésen ist nun siebzigjährig gestorben. Aber “Tadzio” lebt weiter – auch in den Romanen und Erzählungen zahlreicher Schriftsteller und Schriftstellerinnen bis heute, in denen der literarische Topos des “schönen Knaben” immer wieder Verwendung findet.
Guido Fuchs / Tadzios Brüder. Der “schöne Knabe” in der Literatur / Verlag Monika Fuchs, Hildesheim 2015


