Kalorienzählen und “Was du nicht erwartest”

Bleiben wir noch ein bisschen bei “Was du nicht erwartest”. In der heutigen Tageszeitung wurde in einer Meldung berichtet, dass in England zukünftig große Restaurants Kalorienangaben auf ihren Speisekarten machen müssen (Hildesheimer Allgemeine Zeitung, 07.04.2022, S. 28). Das erinnerte mich an eine Passage aus dem Buch, die aus Mais Sicht geschrieben ist, hier als weiterer Textschnipsel für Sie. Mai war übrigens wegen ihrer Magersucht in der Jugendpsychiatrie und ist zusammen mit Nik abgehauen, weil sie genug davon hatte, dauernd essen zu müssen.

Als Mai und Nik sich kennenlernen, erzählt Mai, dass sie beim Essen Kalorien zählt, um die Kontrolle über ihre Nahrungsaufnahme zu behalten. Einige Tage später kommt es in einer Frankfurter Wirtschaft zu dieser Szene, nachdem Nik für Mai Flammkuchen bestellt hat:

»Entschuldigung«, sagte Nik, als die Bedienung gerade gehen wollte. »Haben Sie eine Küchenwaage?«
Sie schaute ihn verwundert an. »Ja, sicherlich. Warum?«
»Könnten wir die ausleihen?«
Die Kellnerin zögerte, man konnte richtig sehen, dass ihr ein weiteres »Warum« auf der Zunge lag, aber sie schluckte es herunter.
»Natürlich, kommt sofort.«
Sie lächelte, aber es wirkte nicht mehr ganz so echt. Ich sah zu Nik hinüber.
»Wir müssen doch die Kalorien zählen, damit du das essen kannst. Komm, wir machen dir schon mal gleich große Teile.«
Er griff nach meinem Teller und zog ihn zu sich. Dann schnitt er akkurat zwölf gleich große Teile aus meinem Flammkuchen, der fast perfekt rund war. […] »Hier, bitteschön.«
Die Kellnerin legte uns ein flaches, silbernes Gerät mit Digitalanzeige auf den Tisch und schenkte uns einen weiteren skeptischen Blick.
»Danke«, sagte Nik und die Kellnerin entfernte sich kopfschüttelnd.
»Okay?«, fragte Nik und nahm eins von meinen Flammkuchenstücken. Er schaltete die Waage ein und legte es drauf.
»Wie viel Kalorien hat Flammkuchen?«, fragte er. Ich verzog das Gesicht.
»Das kommt darauf an, was für ein Rezept man verwendet. Lass es doch, Nik. Ich bin gar nicht hungrig.«
»Du bist so komisch«, sagte er. »Du hast jetzt Ewigkeiten nichts gegessen und behauptest, du wärst nicht hungrig? Echt unglaublich!
Also, wie viele Kalorien?«
Ich zuckte die Schultern. »So 250 auf 100 Gramm, schätze ich.«
Nik legte das Stück Flammkuchen auf der Waage ab, 28 Gramm.
»70 Kalorien«, sagte er und reichte es mir. Ich nahm es in die Hand und musterte es prüfend. Zögernd biss ich hinein, zerdrückte jeden kleinsten Bissen in meinem Mund zu Brei und schluckte irgendwann widerwillig. Nik, der bereits ein Drittel von seiner Portion gegessen hatte, reichte mir das nächste Stück, das ein wenig mehr wog, 31 Gramm, also 77,5 Kalorien. Wir machten so weiter, bis ich etwa die Hälfte von meiner Portion gegessen hatte. 389 Kalorien, obwohl das auch nur ein Schätzwert sein konnte. Ich stöhnte ein wenig und legte mir beide Hände auf den Magen. Er wölbte sich richtig schlimm nach vorne, dick und rund, mir war schlecht.
»Ich kann nicht mehr«, murmelte ich.
Nik sah auf den halbaufgegessenen Flammkuchen und nickte.